Auszug aus einem Interview mit Dr. Tanja Brüning
Wird ein Säugling innerhalb kürzester Zeit zum zweiten Mal mit einem gebrochenen Arm in ein Krankenhaus eingeliefert, ist jeder Arzt skeptisch. Wie kommt es zu solchen Verletzungen bei einem Baby, das noch nicht mal laufen kann? Die Aussage der Mutter, ihr Kind sei erneut von der Wickelkommode gefallen, scheint nicht glaubwürdig. Der Mediziner ist alarmiert. Doch alles, was er zusätzlich zur nötigen Versorgung des gebrochenen Arms unternimmt, um eine mögliche Kindeswohlgefährdung nachzuweisen oder auszuschließen, bezahlt die Krankenkasse nicht.
Zeitaufwändige Gespräche mit den Kindern, Eltern, Jugendamt und weitere Untersuchungen, um mögliche Alt- oder Zusatzverletzungen festzustellen. ,,Die Krankenkassen wenden das Verursacherprinzip an. Bei einem Missbrauch müsste der Täter für die entstehenden Kosten aufkommen. Dazu müsste das Kind den Täter benennen und der müsste auch noch richterlich verurteilt werden. Das ist eine Riesenhürde. De facto bleiben normale Ärzte oder Kliniken auf den Kosten sitzen.“ Das sagt die Ärztin Dr. Tanja Brüning. Die 39-Jährige leitet die medizinische Kinderschutzambulanz der Vestischen Kinder- und Jugendklinik in Datteln (Kreis Recklinghausen). Tanja Brüning ist Kinder- und Jugendgynäkologin mit der bundesweit einzigen kinderärztlichen Vollzeitstelle für Kinderschutz in Deutschland.
„Dabei wissen wir doch, wie groß der Bedarf ist“, sagt Tanja Brüning. Täglich untersucht sie Kinder, die Schlimmes erlebt haben. Kinder, deren Körper grün und blau geprügelt sind. Mädchen, auf denen glimmende Zigarettenkippen ausgedrückt wurden. Jungen, die gebissen, mit Messern verletzt und fast verhungert sind oder deren Hals blau ist von Würgemalen. Diese Kinder kommen in Begleitung ihrer Eltern, ihrer Peiniger. Als Brüning hier vor zwei Jahren ihre Arbeit begann, waren es 124 kleine Patienten, die sie versorgte. Im vergangenen Jahr waren es schon 550. Der Bedarf ist enorm, viele Krankenhäuser überweisen ihre Patienten an die Dattelner Ambulanz, die sich auf das Erkennen von Missbrauch und Gewalt bei Kindern spezialisiert hat. Bei einem Drittel dieser Kinder liegt der Verdacht auf sexuellen Missbrauch vor.
Häufig landen sie bei Tanja Brüning, ,,weil sie sich allein nicht mehr berappeln und die Eltern Angst bekommen“. Oder weil die Jugendämter eingeschaltet wurden. ,,Mir geht es nicht um die Täter, sondern um die Kinder. Sie dürfen nicht ein zweites Mal Opfer werden, weil kein Geld vorhanden ist“, sagt Tanja Brüning.
„Ich bin deine Ärztin. Ich will dir helfen. Wo hat man dir wehgetan. Ich möchte, dass es dir gut geht“ – so stellt sich die 39-jährige Ärztin ihren Patienten vor. Auf ihrem weißen T-Shirt strahlt ein rosa Hello-Kitty-Namensschild. Ihr Hauptklientel sind Mädchen, die im Durchschnitt sechs Jahre alt sind. Aber auch Kleinkinder, die noch gar nicht sprechen können, sind darunter.
,,Ab fünf Jahren steigt die Zahl der registrierten Missbrauchsopfer: In diesem Alter beginnen sie über das Geschehene zu sprechen“. Brüning weiß, was die Kinder durchmachen. Sie sollen ihr berichten, wie die Striemen am Körper und die Risse im Vaginalbereich entstanden sind. ,,Ich weiß, wie die Kinder eingeschüchtert werden. Ihnen wird gedroht und sie wissen, was ihnen blüht“. Brüning leistet Sisyphosarbeit. Sie spricht mit Jugendämtern, Rechtsmedizinern, schreibt Gutachten, erstattet Anzeige und sorgt dafür, dass die Kinder vor ihren Peinigern geschützt werden. ,,All das machst du nicht in einer halben Stunde.“